Erster kostenfreier Klassifizierungs-Sprechtag

Austausch kann die Argumentation erleichtern

Tuttlingen – Welcher Risikoklasse kann oder muss ein bestimmtes Medizinprodukt zugeordnet werden? Die regulatorischen Vorgaben lassen verschiedene Auslegungen zu und Hersteller bisweilen ratlos zurück. Unterstützung bei der Entscheidungsfindung gibt der erstmals von der MedicalMountains GmbH angebotene kostenfreie Klassifizierungs-Sprechtag mit Prof. Dr. med. Michael D’Agosto am 29. Juni.

Michael D’Agosto ist dem Ruf an die Hochschule Furtwangen, Campus Tuttlingen gefolgt und hat zum Sommersemester 2021 die Professur für Medizintechnik, Schwerpunkt Produktzulassung inne. Zuvor Leiter der Abteilung Clinical Affairs & Post-Market Surveillance bei der Karl Storz SE & Co. KG, kann er nachvollziehen, dass sich Medizintechnik-Unternehmen mit der Beurteilung ihrer Produkte schwertun können. Wir haben ihm drei Fragen im Vorfeld des Sprechtags gestellt.

  • Herr D’Agosto, die EU-MDR gibt in Anhang VIII Klassifizierungsregeln vor. Trotzdem bestehen Unsicherheiten und unterschiedliche Lesarten innerhalb der Branche. Ist das MDR-Raster zu grob, um das gesamte Spektrum an Medizinprodukten abzudecken?

Die Vielfalt der Produkte in der Medizintechnikbranche ist bekanntermaßen besonders groß. Sie reicht von Gehhilfen über Verbandmittel über medizinisches Kohlendioxid über Stand-Alone-Software über chirurgische Instrumente über Endoprothesen und Herzschrittmacher bis hin zu Magnetresonanztomographiesystemen um nur einige wenige zu nennen. Die bereits in der Medizinprodukte-Richtlinie 93/42/EWG (MDD) definierten 18 Risikoklassifizierungsregeln wurden mit der Medizinprodukteverordnung 2017/745 (MDR) an einigen Stellen überarbeitet und es wurden neue Regeln hinzugefügt. Eine vollständige Revision der Regeln hätte zu einem unverhältnismäßig hohen Aufwand zur Neu-Klassifizierung der Produkte geführt und wäre, unter anderem, von den Herstellern sicher nicht akzeptiert worden. Und es bleibt fragwürdig ob dann alle Produkte hätten berücksichtigt werden können, insbesondere bei einer solch innovativen Branche. Somit haben wir aktuell 22 Regeln, die das gesamte Spektrum abdecken sollen. Es ist ersichtlich, dass hier ein einfacher Algorithmus kaum anwendbar ist. Bei jeder Verordnung, Norm oder Leitlinie gibt es unterschiedliche mögliche Lesarten, also einen Interpretationsspielraum. Die Klassifizierungsregeln haben zum Ziel eine anwendungsbezogene, risikobasierte Einstufung zu ermöglichen. Unter dem Aspekt dieses Erwägungsgrundes sollten bei Unsicherheiten angemessene Argumentationen entwickelt werden um die Entscheidung überzeugend zu begründen. Im Zweifel kann die Diskussion mit der benannten Stelle gesucht werden, zudem nennt die MDR explizit die Möglichkeit die zuständige Behörde zu kontaktieren.

  • Wenn nun bei dem Sprechtag konkrete Fragen zur Klassifizierung an Sie adressiert werden: Welche Informationen benötigen Sie von den Herstellern, um eine möglichst gute Einschätzung geben zu können?

Es gibt eine ganze Reihe an Informationen, die hilfreich sind. Das sind zunächst die Bezeichnung des Produkts beziehungsweise der Produktkategorie oder -gruppe und die Zweckbestimmung. Wenn zutreffend und falls bekannt, Codes wie EMDN/CND sowie Indikation beziehungsweise Kontraindikation. Weitere ausgelobte Leistungen aus anderen produktbegleitenden Informationen, etwa Marketingunterlagen und Videos, sind zu berücksichtigen. Ebenso die Frage nach Software und nach der Kombination mit anderen Produkten.

In die Bewertung spielen dann die Dauer und der Ort der Anwendung hinein und ob eine Anwendung im Kontakt mit dem zentralen Kreislauf- oder Nervensystem vorgesehen ist. Handelt es sich um ein wiederverwendbares chirurgisches Instrument, ein Sterilprodukt oder aktives Medizinprodukt? Besitzt es eine Messfunktion? Dient es der Steuerung, Regelung oder Kontrolle anderer Produkte? Die Auflistung ist nicht vollständig. Es gibt noch einige Aspekte mehr, die Einfluss auf die Klassifizierung nehmen.

  • Am Hochschulcampus Campus Tuttlingen widmen Sie sich im Rahmen Ihrer Medizintechnik-Professor dem Schwerpunkt Produktzulassung. Was genau ist darunter zu verstehen?

Der Schwerpunkt beschäftigt sich mit den länderspezifischen Anforderungen, die in regulierten Märkten an Medizinprodukte gestellt werden, um diese in Verkehr bringen zu können. Das bedeutet hinsichtlich der Lehre dass wir Studierende des Hochschulcampus Tuttlingen befähigen möchten die Regularien zu verstehen und die Anforderungen zu erfüllen. In diesem Umfeld gibt es neben der Lehre auch Forschungsbedarf hinsichtlich dem Erbringen von Nachweisen zur Sicherheit, Leistungsfähigkeit oder des klinischen Nutzens, zur klinischen Nachbeobachtung von Medizinprodukten, aber auch zu verhältnismäßiger Umsetzung der Regularien im Allgemeinen. Neben meinem Schwerpunkt umfasst die Lehre auch Themen, die sich aus meiner ärztlichen Ausbildung und der weiteren Berufstätigkeit heraus ergeben.

ZUR PERSON

Michael D’Agosto studierte Humanmedizin in Freiburg und war seit 2003 als Arzt tätig. 2013 schloss er zusätzlich ein Studium der Medizintechnik am Campus Tuttlingen ab. Zuletzt leitete er die Abteilung Clinical Affairs & Post-Market Surveillance bei der Karl Storz SE & Co. KG. Zum Sommersemester 2021 erhielt er den Ruf an die Hochschule Furtwangen Campus Tuttlingen zu einer Professur für Medizintechnik, Schwerpunkt Produktzulassung.